Ein Vogel auf dem Drahtseil
„Um die Wirklichkeit auf die Probe zu stellen, müssen wir sie auf dem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten zu Akrobaten werden, können wir sie beurteilen." Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray.
Historisch gesehen dürfte der Seiltanz von Hirten in Mittelasien entwickelt worden sein, um Schluchten zu überqueren. Ebenso spannt Musik Klangräume auf, die über solche Hindernisse hinweg hörbar sind. Ein Seiltänzer und eine Musikerin queren den Raum. Ein Stahlseil wird mittels einer Winde unter Spannung gesetzt und gibt den Weg für den Artisten vor.
Der Seiltänzer bewegt sich, schreitend, vorwärts oder rückwärts, innehaltend oder wiederholend. Durch die Bewegungen des Artisten entstehen Geräusche und Klänge im Seil. Mittels spezieller Tonabnehmer werden sie verstärkt, live elektronisch verändert, verarbeitet, geschichtet, verzerrt. Dazu spielt die Künstlerin auf der Subbassflöte und erzeugt Feedbackklänge, deren unwirklich weicher, bisweilen äußerst tiefer Klang die Geräusche des Seils kontrastiert.
Die Klänge durchmessen den Raum in alle Richtungen, nach der Regie der Komponistin an den Reglern des Mischpultes. Die Klangarchitektur orientiert sich an der Bewegungsstruktur des Drahtseilaktes und entsteht gemeinsam mit dem Artisten. Komposition und Choreografie stehen gleichwertig nebeneinander und nehmen aufeinander Bezug. Der Weg ist für beide vorgezeichnet, und doch ständig offen. In jedem Augenblick richtig zu entscheiden, ist für beide gleich wichtig.
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