ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST
Stellen Sie sich vor, Sie stehen an der Bushaltestelle. Neben Ihnen hat ein Pärchen einen heftigen Streit. Was tun? Einmischen? Oder nicht?
Der brasilianische Autor und Regisseur Augusto Boál entwickelte in den 50er- und 60er-Jahren unter dem Begriff „Theater der Unterdrückten“ mehrere Formen von politischem Agitationstheater, darunter das „Unsichtbare Theater“. Dabei werden gesellschaftspolitisch relevante Themen auf öffentlichen Plätzen auf eine Art inszeniert, die von den Passanten nicht als Theater wahrgenommen wird und daher in ihren emotionalen Reaktionen authentisch und real Wirkung zeigen.
Zu Alltagsthemen wie Telefonieren in der Öffentlichkeit, Kindererziehung, einem Seitensprung, Arbeitslosigkeit oder verbaler Gewalt werden kleine Dramen in Szene gesetzt – konfliktbeladen und in emotionalen Ausbrü-chen mündend. Sie ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und werfen für die Umstehenden wesentliche Fragen auf: Darf ich mich da einmischen? Was geht mich der Streit von Fremden an! Oder habe ich vielleicht sogar die Pflicht zur Stellungnahme?
Von der Tatkraft und Zivilcourage der Zuseher hängt es ab, ob ihnen die Szenen völlig egal bleiben, ob sie sich zum Nachdenken anregen lassen oder sogar aktiv eingreifen, etwa zum Schutz einer angegriffenen Person. Wie auch immer diese Entscheidung ausfällt, eines ist sicher: zwischen Mai und September und hoffentlich darüber hinaus werden sie den öffentlichen Raum nicht nur im Industrieviertel mit anderen Augen sehen.
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